Historiker Thomas Großbölting attestiert den politischen Entscheidungsträgern Flickschusterei im Umgang mit der gewachsenen weltanschaulichen Vielfalt in Deutschland.
Die Religionspolitik der Bundesrepublik sei „in hohem Maße dysfunktional“, sagte der Wissenschaftler am 24. Mai 2016 in der öffentlichen Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Das politische System und die Gesellschaft in Deutschland seien weder darauf vorbereitet, dass immer weniger Menschen religiös seien, noch, dass die Ausdrucksformen und Aushandlungsprozesse in dem schrumpfenden religiösen Segment vielfältiger und extremer würden. Die besondere Stellung der Kirchen benachteilige Angehörige von Gruppen anderer Bekenntnisse. Dies sei auch ein Resultat von Entscheidungen bei der Schaffung des Grundgesetzes.
In seinen Ausführungen zeichnete der Wissenschaftler nach, wie 1949 die Religions- und Kirchenartikel des Grundgesetzes zustande kamen, die das Verhältnis des Staates und der beiden christlichen Kirchen bis heute prägen. Die Übernahme der einschlägigen Passagen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 in das Grundgesetz beruhte nicht auf einer breit getragenen Entscheidung, sondern diente vor allem der Konfliktvermeidung, wie Thomas Großbölting, Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der WWU Münster, sagte.
„Religionspolitische Ordnungen werden nicht am Reißbrett der politischen Planung entworfen, sondern sie sind das Ergebnis zufälliger Macht- und Politikkonstellationen“, erläuterte der Historiker dazu. Besonders treffe dies auf die sogenannten „Kirchenartikel“ des Grundgesetzes zu: Religionspolitisch hätten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die das Grundgesetz erarbeiteten, auf Kontinuität und Konfliktvermeidung gesetzt, „indem sie die Frage nach der Zuordnung von Staat und Kirche schleppend behandelten und sich als Kompromiss auf alte Formeln der Weimarer Republik zurückzogen“, sagte Großbölting. „Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich im Klaren darüber, welche Sprengkraft die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche in der jungen BRD haben konnte“, so der Historiker.
Zum Verhalten der Politik gegenüber der sich weltanschaulich seit langem wandelnden Gesellschaft zog der Historiker eine kritische Bilanz: „Von Staatsseite aus gibt es keinen aktiven und erst recht keinen pro-aktiven Umgang mit der Herausforderung der religiösen Vielfalt. In Politik, Verwaltung und öffentlichem Leben hat man sich mit dem religionspolitischen Status quo gut eingerichtet und flickschustert dann daran herum, wenn es sich nicht vermeiden lässt“, so Großbölting, unter anderem Autor des 2013 erschienenen Buches „Der verlorene Himmel: Glaube in Deutschland seit 1945“.
Mit Blick auf die „schleppende Entstehungsgeschichte“ der religionspolitischen Ordnung gebe es wenig Grund, das heutige Staat-Kirchen-Verhältnis „in besonderer Weise als schützenswert oder sakrosankt“ zu sehen. „Wenn der politische Wille zur Veränderung da ist, dann nur zu“, sagte der Wissenschaftler.