Vorwort zur zweiten Auflage

Liebe Lesende,

„kulturell unbehaust“ – fühlen Sie sich mit dieser Bezeichnung angemessen beschrieben? Wir haben keine Zweifel daran, dass Sie die Zuschreibung einer solchen Art umfassender Obdachlosigkeit mit allem Recht und entschieden von sich weisen würden.

Doch dies ist keine Fiktion: Im Mai 2018 fand sich genau diese Zuschreibung in der reichweitenstärksten deutschen Wochenzeitung, DIE ZEIT, Ausgabe 20 des Jahrgangs, in einem Essay mit dem Titel „Wie viel Religion verträgt die Demokratie?“. Die Verfasserin war Monika Grütters, Bundestagsabgeordnete aus dem Berliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf und zu diesem Zeitpunkt Kulturstaatsministerin der Bundesregierung und CDU-Landesvorsitzende. „Kulturelle Unbehaustheit“ hatte sie „mit Sorge“ bei einer großen Zahl an SchülerInnen diagnostiziert. Der Grund: Die SchülerInnen hatten nicht die Hand gehoben, wenn Frau Grütters laut ihren eigenen Worten zuvor bei Besuchen im Wahlkreis regelmäßig die Frage gestellt hatte: Wer von euch ist getauft?

Kulturell unbehaust, weil nicht getauft und kein Kirchenmitglied: Dies ist das Bild, das offenkundig in Teilen der politischen Elite der Bundesrepublik vorherrschend ist. Doch vermutlich nicht nur dort, denn anscheinend hatten auch die mit dem Text befassten ZEIT-RedakteurInnen nicht bemerkt, dass die hinter diesen Worten stehenden Vorstellungen stark herabsetzend sind, gerade von Seiten einer Person im Amt einer Kulturstaatsministerin. Grütters war zum Zeitpunkt der Drucklegung der zweiten Auflage dieses Bericht nicht nur Abgeordnete und Kulturstaatsministerin, sondern auch eines von 230 Mitgliedern des Zentralrats der deutschen Katholiken (ZdK).

Dieses einflussreiche Netzwerk, dem u. a. zahlreiche namhafte PolitikerInnen aller Parteien angehören, ist ein Teil der wirkmächtigen politischen Strukturen, die wenig Interesse an der Behebung der vielfältigen Formen der Benachteiligung haben, die dieser Bericht seit 2015 dokumentiert. Denn nichtreligiöse BürgerInnen sehen sich zwar in allen Bereichen des Lebens gleichverpflichtet wie Kirchenangehörige, ob als SteuerzahlerInnen, als ArbeitnehmerInnen, als Ehrenamtliche und zivilgesellschaftlich engagierte Personen, als Eltern, als Studierende, als RundfunkbeitragszahlerInnen usw. Doch sie haben bis heute in wichtigen Bereichen nicht gleiche Rechte, Chancen und Teilhabemöglichkeiten. Sie müssen sich – insbesondere mit Blick auf die Haltung weiter Kreise der politisch und legislativ Verantwortlichen – immer noch als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt sehen.

Die Zwischenbilanz zur überarbeiteten, aktualisierten und ergänzten Auflage dieses Bericht muss vier Jahre nach der Erstveröffentlichung leider drastisch ausfallen. Der anhaltende Unwille der politischen Spitzen auf Bundes- und Länderebene, auf die wachsende Gruppe derjenigen zuzugehen, die sich keiner religiösen Glaubensrichtung verbunden fühlen, legt für uns einen Schluss nahe: Millionen BürgerInnen haben weltanschauungspolitisch so etwas wie den Status von personae non gratae, unerwünschten Personen.


Den überarbeiteten, ergänzten und aktualisierten Bericht können Sie hier

als PDF kostenfrei herunterladen

oder ihn als gedruckte Broschüre bestellen.